
Anziehverfahren in der Schraubtechnik
Die Schraubtechnik ist nach wie vor Schlüsseltechnologie in der Montage, insbesondere aufgrund ihrer hohen Belastbarkeit, Wiederverwendbarkeit und der Möglichkeit, Verbindungen zerstörungsfrei zu lösen. Schrauben sind die am häufigsten eingesetzten Maschinenelemente und bieten eine breite Auswahl an normierten Ausführungen für verschiedenste Anwendungen.
Das wichtigste Ziel beim Verschrauben in der Montagetechnik ist das Erreichen einer definierten und konstanten Vorspannkraft. Diese muss so eingestellt werden, dass einerseits die Funktion der Schraubverbindung bei jeder möglichen Betriebskraft gewährleistet ist und andererseits die zulässige Belastung nicht überschritten wird. Problematisch sind dabei die häufig unbekannten Setzerscheinungen der Verbindung und die montagebedingten Schwankungen der erreichten Vorspannkraft.
In der Serienfertigung lässt sich die erzielte Vorspannkraft meist nur aufwendig ermitteln. In der Praxis kommen daher verschiedene Anzugsverfahren zum Einsatz, um die Vorspannkraft indirekt zu steuern. Häufig wird auf das Anzugsmoment als indirekte Messgröße ausgewichen. Weitere Parameter wie Drehwinkel, Einschraubzeit und Reibwerte dienen ebenfalls als wichtige Steuergrößen im Montageprozess. Innovative Verfahren zur Erkennung der Schraubenkopfauflage helfen zusätzlich, die Konstanz der Vorspannkraft zu verbessern.
Das drehmomentgesteuerte Anziehverfahren
Das Anzugsdrehmoment ist die wichtigste Steuergröße beim Anziehen von Schraubverbindungen und wird auch in vielen anderen Verfahren als Regelgröße genutzt.
Eine zentrale Herausforderung des drehmomentgesteuerten Anziehens sind die schwankenden Reibwerte, die gemeinsam mit der Drehmomentstreuung des Schraubgeräts die resultierende Vorspannkraft beeinflussen. Besonders entscheidend ist dabei die Unterscheidung zwischen Kopfreibung und Gewindereibung. Da sich diese Reibungseinflüsse summieren, können selbst bei hoher Wiederholgenauigkeit des Drehmoments Schwankungen der Vorspannkraft von 50 % oder mehr auftreten.
Um eine sichere Verbindung zu gewährleisten, muss die Schraubverbindung daher so ausgelegt sein, dass sie trotz dieser Abweichungen zuverlässig funktioniert: Sie darf bei einer höheren Vorspannkraft nicht überlastet werden und muss bei einer niedrigeren Vorspannkraft dennoch die geforderte Haltekraft aufbringen. Trotz dieser Schwächen ist das drehmomentgesteuerte Anziehen das mit Abstand am häufigsten verwendete Anzugsverfahren – vor allem wegen seiner einfachen technischen Umsetzung.
Eine Möglichkeit zur Präzisionssteigerung bietet die Kombination mit einer Drehwinkelerfassung. Diese Methode ist besonders nützlich, wenn schwankende Materialeigenschaften der Bauteile erfasst werden sollen. Der eigentliche Montageprozess bleibt dabei unverändert, jedoch wird zusätzlich der ab einem bestimmten Schwellmoment auftretende Nachspannwinkel überwacht. Dieser muss innerhalb definierter Grenzwerte, dem sogenannten grünen Fenster, liegen.
Durch die Auswertung des Nachspannwinkels lassen sich Rückschlüsse auf mögliche Montagefehler ziehen:
- Zu kurze Nachspannwinkel deuten häufig auf das Fehlen eines Dichtungselements hin.
- Zu lange Nachspannwinkel deuten auf unzureichend gehärtete Bauteile hin.
Das Schwellmoment, ab dem die Drehwinkelerfassung einsetzt, liegt in der Regel zwischen 20 % des Endmoments (bei harten Schraubfällen) und 80 % des Endmoments (bei weichen Schraubfällen).
Das drehwinkelgesteuerte Anziehverfahren
Beim Drehwinkelverfahren werden sowohl das Drehmoment als auch der Drehwinkel der Schraubverbindung zur Steuerung des Anzugsprozesses verwendet. Im Endanzug dient jedoch der Drehwinkel und nicht das Drehmoment als Steuergröße. Das bedeutet, die Schraube wird zunächst bis zu einem Drehwinkelstartmoment angezogen und dann um einen vordefinierten Nachspannwinkel weitergedreht. Das Drehmoment kann dabei als zusätzliche Kontrollgröße genutzt werden.
Mit diesem Anzugsverfahren kann die Schraube entweder im elastischen oder in den plastischen Bereich angezogen werden. Im plastischen Bereich führt ein weiteres Drehen der Schraube nur noch zu minimalem Drehmomentanstieg, weshalb das Drehmoment als Steuergröße nicht mehr zuverlässig genutzt werden kann. Für den Anzug in diesen Bereich müssen bestimmte Parameter genau eingehalten werden, da die Schraube dabei dauerhaft verformt wird und ihre Wiederverwendbarkeit verliert.
Die Begriffe plastisch und elastisch lassen sich anhand des Hook’schen Spannungs-Dehnungs-Diagramms veranschaulichen. In der elastischen Verformung ist die Vorspannkraft bei konstanten Reibwerten proportional zum aufgebrachten Drehmoment. Mit steigendem Moment nimmt auch die Dehnung der Schraube zu. Wenn die Belastung (Vorspannkraft / Moment) wieder entfernt wird, geht die Verformung zurück. Sobald jedoch die Streckgrenze der Schraube erreicht wird, flacht der Anstieg des Moments ab, und die Schraube tritt in den plastischen Bereich ein. In diesem Bereich bleibt die Verformung auch nach der Rücknahme der Belastung bestehen. Wird die maximale Belastung überschritten, kommt es zur Einschnürung der Schraube, was letztlich zu ihrer Zerstörung führt.
Der plastische Bereich einer Schraube variiert je nach Ausführung: Er kann kurz und steil oder lang und flach sein. Ein weiter plastischer Bereich ist jedoch notwendig, um das drehwinkelgesteuerte Anzugsverfahren erfolgreich anzuwenden. Dieses Verfahren ermöglicht es, die Störgrößen des Reibungseinflusses weitgehend zu eliminieren und gleichzeitig die maximale Belastbarkeit der Schraube auszunutzen.
Das streckgrenzgesteuerte Anziehverfahren
Um die Einschränkungen der Dehnschraube zu vermeiden und gleichzeitig die Abhängigkeit von schwankenden Reibwerten nicht als Nachteil zu haben, wurde das streckgrenzgesteuerte Anziehen entwickelt. Bei diesem Verfahren werden sowohl Drehmoment als auch Drehwinkel als Steuergrößen erfasst. Das Prinzip basiert auf der Nutzung der abfallenden Steigung im Spannungs-Dehnungsdiagramm, das bei Erreichen der Streckgrenze als Abschaltkriterium dient.


Im Spannungs-Dehnungsdiagramm lässt sich erkennen, dass der Anstieg zu Beginn linear verläuft und sich bei Erreichen der Streckgrenze zunehmend abflacht. Während dieses Prozesses verhält sich die Axialkraft proportional zum Drehmoment und die Dehnung proportional zum Drehwinkel. Mathematisch ausgedrückt ist der Anstieg einer Kurve die Ableitung der Funktion. Wird die Ableitung des Drehmoments nach dem Erreichen des Drehwinkels auf etwa 50 % des Ausgangswerts reduziert, ist die Streckgrenze erreicht, und der Anzugsvorgang wird beendet. Zur Sicherheit können Grenzwinkel und Grenzmomente zusätzlich als Überwachungsgrößen eingeführt werden.
Durch das streckgrenzgesteuerte Anziehen lassen sich die Nachteile schwankender Reibwerte oder die Einschränkungen bei der Auswahl der Schraube vermeiden. Die Schrauben können aufgrund der höheren Sicherheit beim Erreichen der benötigten Vorspannkraft in vielen Fällen kleiner dimensioniert werden, was eine Kostensenkung ermöglicht.
Das Verfahren ist nur für Verbindungen anwendbar, bei welchen die Schraube die schwächste Komponente ist. Das z.B. Eingraben des Schraubenkopfes in die Gegenlage könnte sonst als Streckgrenze vom Schraubsystem fehlinterpretiert werden.
DEPRAG Clamp Force Control (CFC)
Das adaptive Schraubverfahren DEPRAG CFC erreicht selbst bei schwankenden Eindrehmomenten eine verbesserte und konstantere Vorspannkraft (Klemmkraft). Die vollständige Verschraubung setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen: der Kopfauflageerkennung und der Verschraubung, die entweder auf Differenzmoment oder auf Drehwinkel basiert.
Typische Anwendungsbeispiele für dieses Verfahren sind Direktverschraubungen in Kunststoff oder Metall. Das patentierte Verfahren für EC-Servo-Schrauber in Verbindung mit der AST12 oder AST40 wird speziell bei stark variierenden Eindrehmomenten eingesetzt.
Herausforderungen und Lösungen
Schwankungen im Eindrehmoment können durch verschiedene Faktoren verursacht werden, wie etwa Änderungen in der Schrauben- oder Bohrungsgeometrie, das Gefüge des Bauteilmaterials, wechselnde Oberflächenbeschaffenheiten des Schraubengewindes oder durch federnde Elemente und Setzerscheinungen. In solchen Fällen sorgt die zuverlässige Erkennung der Kopfauflage für einen einheitlichen Ausgangszustand und ermöglicht einen konstanten Endanzug, was zu einer gleichmäßigen Vorspannkraft führt.
Vorteile:
- Verbesserte Konstanz der Vorspannkraft: Die Vorspannkraft bleibt konstant, selbst bei variierenden Eindrehmomenten.
- Robustheit gegenüber zufälligen Schwankungen: Das Verfahren ist unempfindlich gegenüber zufälligen Drehmomentanstiegen, die nicht durch die Kopfauflage verursacht werden.
- Geringer Parametrierungsaufwand: Die Einrichtung des Verfahrens ist schnell und einfach.
Berechnungsverfahren
Das Hauptmerkmal des Verfahrens ist die Kopfauflageerkennung. Dabei wird der Drehmomentverlauf kontinuierlich überwacht und in eine mathematische Bewertungsfunktion umgewandelt. Die Kopfauflage gilt als erkannt, wenn diese Funktion einen fest definierten Grenzwert überschreitet.
Sobald die Kopfauflage erkannt ist, werden sowohl das Drehmoment als auch der Drehwinkel zu diesem Zeitpunkt rückwirkend berechnet. Als Abbruchkriterium für die Schraubstufe dient die obere Moment-Grenze. Optional kann das IO-Fenster für die Kopfauflageerkennung durch Unter- und Obergrenzen für Moment und Winkel überwacht werden.
Die Endwerte der Schraubstufe (Drehmoment und Drehwinkel) zum Zeitpunkt der Kopfauflage oder am Ende der Schraubstufe werden als Referenzwerte für den folgenden Programmabschnitt verwendet.
Anstelle der Verschraubung auf Differenzmoment kann auch eine Verschraubung auf Drehwinkel folgen.
Das DEPRAG Reibwertverfahren
Das Hauptziel bei der Verschraubung von Bauteilen ist das Erreichen einer konstanten Vorspannkraft. Die gängige Anzugsstrategie, das "Verschrauben auf vorbestimmtes Drehmoment", funktioniert gut, wenn die für den drehmomentgesteuerten Schraubprozess erforderlichen Eigenschaften in gleichbleibender Qualität vorliegen.
Jedoch treten besondere Herausforderungen bei der Verarbeitung von selbstfurchenden und selbstschneidenden Schrauben auf. Hier können Schwankungen in der Teilequalität, wie etwa Veränderungen in der Schrauben- oder Bohrungsgeometrie, Materialgefüge der Bauteile, wechselnde Oberflächenbeschaffenheiten der Schraubengewinde oder der Kernlochbohrung sowie federnde Elemente und Setzerscheinungen, zu unregelmäßigen Eindrehmomenten während des Form- oder Schneidprozesses führen.
Wenn Schraubverbindungen auf vorbestimmte Endanzugswerte angezogen werden, können diese schwankenden Eindrehmomente zu variierenden Vorspannkräften führen, was folgende Probleme zur Folge haben kann:
- Beschädigungen der Schraube oder der Bauteile (z. B. Bruch)
- Versagen der Schraubverbindung (Verlust der Vorspannkraft)
- Nichterreichen der Schraubenkopfauflage
Die Lösung: Präzise Kontrolle der Vorspannkraft trotz schwankender Reibwerte
Das DEPRAG Reibwertverfahren bietet hier eine Lösung. Während des Einschraubprozesses wird in einem parametrierbaren Winkelbereich das Eindrehmoment erfasst, das für den Form- oder Schneidprozess aufgebracht wird. Aus diesen Messwerten wird ein Mittelwert berechnet, der als Reibwert bezeichnet wird. Der Reibwert bestimmt über ein Schwellenmoment den weiteren Anzugprozess, wobei das Differenzmoment für den nächsten Schritt genutzt wird. Die Summe aus Reibwert und Differenzmoment ergibt schließlich das Abschaltmoment.

Vorteile:
- Die erforderliche Vorspannkraft wird auch dann prozesssicher aufgebracht, wenn sich die Drehmomentwerte während des Prozesses ständig ändern.
Nachteile:
- Die Endanzugswerte sind aufgrund der schwankenden Reibwerte nicht konstant. Daher ist eine Qualitätsbewertung der Einzelverschraubungen über die Endanzugswerte (z. B. anhand des Cmk-Index) nicht möglich.
- Die verfügbaren Messgrößen für die Qualitätsbewertung sind stattdessen der Differenzmomentwert oder der Drehwinkelwert, der vom Schwellenmoment bis zum Erreichen des Abschaltmoments gemessen wird.

Die Längenmessung
Die Dehnung einer Schraube und die daraus resultierende Vorspannkraft sind mathematisch präziser miteinander verknüpft als das Drehmoment und die Vorspannkraft. Daher ermöglicht eine direkte Dehnungsmessung eine sehr genaue Bestimmung der Vorspannkraft. Eine Möglichkeit, dies zu messen, besteht in der mechanischen Erfassung der Dehnung über die Bohrung in der Schraube. Diese Bohrung muss dabei tiefer als die Einspannlänge der verwendeten Schraube sein. Diese Methode eignet sich jedoch nur für Spezialfälle mit größeren Schrauben und wird in der Praxis selten angewendet.
Die Ultraschall-Längenmessung
Eine präzisere Methode zur Längenmessung ist die Ultraschall-Messung der Schraubendehnung. Dabei wird ein Ultraschallimpuls in den Schraubenkopf eingeleitet. Der Impuls breitet sich durch die Schraube aus, wird am Schaftende an der Grenzfläche Stahl/Luft reflektiert und kehrt zum Schraubenkopf zurück. Der Zeitunterschied zwischen den Echos des Impulses wird verwendet, um die Länge der Schraube zu berechnen.
Diese Messung kann mit sehr hoher Frequenz erfolgen, sodass mehrere tausend Messungen pro Sekunde durchgeführt werden können und eine hohe Auflösung erreicht wird. Allerdings müssen die Spannungszustände des Schraubenmaterials und die Temperatur der Schraube als Störgrößen kompensiert werden. Das Verfahren hat mittlerweile Serienreife erreicht und wird in der Automobilindustrie für hochsensible Sicherheitsverschraubungen erfolgreich eingesetzt. Hierbei wird jedoch weiterhin auf die zusätzliche Überwachung von Drehmoment und Drehwinkel nicht verzichtet.
Ein weiterer Nachteil dieses Verfahrens: Es erfordert Schrauben mit einem aufgedampften Sensor, wodurch bei jeder verarbeiteten Schraube ein teures Sensorelement am Bauteil verbleibt.
Sonderverfahren
Die meisten der beschriebenen Verfahren sind auf metrische Schraubverbindungen aus Stahl zugeschnitten. In der Praxis existieren jedoch zahlreiche weitere Arten von Schraubverbindungen, wie Blechschrauben, selbstbohrende oder selbstformende Schrauben sowie Verbindungen mit metallischen Schrauben in thermoplastische oder duroplastische Kunststoffe. Diese Varianten erfordern besondere Aufmerksamkeit.
Grundsätzlich bleibt der Zusammenhang zwischen Drehmoment, Reibwerten und der erzeugten Vorspannkraft bestehen. Bei Kunststoffverschraubungen kann der Zusammenhang jedoch nicht allein auf die Materialkennwerte der Schraube bezogen werden, da die Materialkennwerte der Bauteile ebenfalls einen Einfluss haben. Bei selbstbohrenden oder selbstformenden Schrauben treten zudem zusätzliche Störgrößen auf – die sogenannten Eindrehmomente.
Herausforderung bei Direktverschraubungen
In Fällen, bei denen ein Gewinde geformt werden muss, sind neben den Reibanteilen auch Gewindeformmomente erforderlich, um das Endmoment zu erreichen. Aufgrund der starken Schwankungen dieser Eindrehmomente sind die Ungenauigkeiten bei der erreichten Vorspannkraft deutlich höher als bei den beschriebenen Standardfällen. Besonders bei Direktverschraubungen in thermoplastische Kunststoffe spielt die Drehzahl des Schraubers eine entscheidende Rolle, da sie die Qualität der Verschraubung erheblich beeinflussen kann.
Fazit: Präzise Schraubverbindungen erfordern passende Anzugsverfahren und deren Parameter
Die präzise Bestimmung der Vorspannkraft bei Schraubverbindungen erfordert den Einsatz geeigneter Messmethoden oder Berechnungstools. Jede Schraubverbindung hat ihre eigenen Herausforderungen, und besonders bei speziellen Materialien und Schraubtypen sind konstruktive Anforderungen und Eindrehmomente zu berücksichtigen. Um optimale Ergebnisse zu erzielen, muss die Schraube, die Bauteile, das Anzugsverfahren und das Schraubwerkzeug für den jeweiligen Anwendungsfall ausgelegt werden.